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Als Quelle diente mir das Buch "Wildermann, Geschichten vom Hörensagen -- über Johann Fuchs, den Bölerebueb", von Praxedis Kaspar. Erschienen ist es in der VGS Verlagsgemeinschaft St.Gallen 1998. Es sei hier wärmstens zum Lesen empfohlen!
Ein Leben, das 1912 begann und 1979 endete, und in dieser Form
hierzulande und heute kaum mehr denkbar ist. Deshalb ist es so aufschlussreich,
das Horoskop eines "Wilden", Unangepassten und eigentlich nie richtig Sesshaften
zu betrachten. Praxedis Kaspar hat Leute befragt, die den Johann Fuchs gekannt
haben, allen voran seine Schwester, das älteste der Geschwister Fuchs. In einem
Armenquartier Appenzells seien sie aufgewachsen. Die Schwester berichtet von
einem guten Vater, von einer problematischen Mutter ("zuviel Temperament und
zuviele Kinder" -- deren acht), und von einer schwierigen materiellen Situation,
die den 11jährigen Johann von zu Hause wegschickte, als Verdingbuben. Von da an
ist es vorbei mit einem steten Wohnort, er zieht herum, zuerst von Bauer zu
Bauer, dann mehr oder weniger auf eigene Faust, und mit 21 unterschreibt er, so
wird erzählt, für drei Jahre Fremdenlegion. In die Rekrutenschule sei er nicht
gegangen, dafür ins Gefängnis. Für wie lange, entzieht sich der Kenntnis seiner
Schwester.
Überhaupt sind wenig greifbare Daten vorhanden, wenig ist bekannt, dafür gibt es
umso mehr Geschichten, die sich um seine Persönlichkeit ranken. "Auf die Frage,
was für ein Kind Johann war, muss ich sagen, er war ein wunderschöner, lustiger
Knabe mit blondem Kraushaar, riesigen blauen Augen und roten Backen." Doch
allzu bald wurde er von der Mutter regelrecht abgestossen, und der Vater sei ein
regelrechter Zugvogel gewesen, der "stärkste Mann in Innerrhoden", welcher, der
Schwester zufolge, "trotzdem viel für uns Kinder getan hatte". Schon ihn, den
Vater, hatte man Bölerebueb genannt, und der Name pflanzte sich weiter, auch der
Sohn war bekannt für seine Bärenkräfte, seinen Zugvogelinstinkt, und ebenso für
seinen Zorn, der sogar von manchen Sennen gefürchtet wurde. Die Kinder hatten
"eine Riesenfreude an ihm", er verhielt sich anscheinend überhaupt sehr nett und
anständig gegenüber Kindern und auch Frauen, und muss über eine gewaltige
Ausstrahlung verfügt haben.
Ab und zu wurde er eingesperrt, weil er gewildert oder etwas einfach mitgenommen
hatte, und so sei es schon mit seinem Vater gewesen -- "aufbrausend und
herzensgut zugleich". Eine unglaubliche Sicherheit im Auftreten sei ihm manchmal
zu eigen gewesen, wie erwähnt insbesondere gegenüber Frauen, wobei er gerade
diese auch wirklich in Ruhe gelassen hatte: "...Von sich aus ist er nicht auf
Frauen zugegangen, die mussten schon selber wollen".
Das Wildern war eine seiner Hauptleidenschaften, abgeschlossen vom Verzehr roher
Leber, nach welchem er "unheimlich aggressiv" geworden sei, wie wenn er den
"Blutrausch" gehabt hätte. Neid auf die Besitzenden sei ihm fremd gewesen, doch
habe er immer alles auf die Spitze getrieben, "auf den Grenzen getanzt". Nicht
nur seine körperlichen Kräfte waren enorm (auch wenn er sie je nach Laune
einsetzte), sondern auch seine psychischen: er vermochte das Blut zu stillen,
allein durch den Einsatz seines Willens, auch über das Telefon. Erstaunlich
auch, dass er oft in schärfster Kälte draussen hauste, in einem Stall, wo die
Bierflaschen gefroren und platzten, allerdings nicht immer zu seinem eigenen
Genuss, denn nach übereinstimmenden Aussagen einiger Zeitgenossen musste er
häufig gelitten und sich extrem ausgeschlossen gefühlt haben, gerade in den
eisigen Wintertagen abseits menschlicher Ansiedlungen, wenn gerade keine Lust
auf Gesellschaft verspürte.
Vor keinem Menschen fürchtete er sich, aber vor Mäusen soll er panische Angst
gehabt haben. Eine besonders wilde Gepflogenheit war zum Beispiel das Trinken
von warmem Gemsenblut.
Ein früherer Postbote erinnert sich: "Auch wenn man sich im Appenzellerland
wilde Geschichten erzählt -- dass der Johann ein paar Jahre in der Fremdenlegion
gewesen sei zum Beispiel --, J.R. glaubt nicht daran. Die Geschichte von der
Fremdenlegion sei gerade so ein Märchen wie die Sage vom Klavier, das er den
Berg hinaufgetragen haben soll. In der Strafanstalt Bellechasse im Welschland
aber sei er wirklich gewesen. Ein einziges Mal habe er davon erzählt, und zwar
im Zusammenhang mit Pferden. Unheimlich starke Gäule habe es dort gehabt, und
keiner ausser ihm habe sie bändigen können."
Allerdings weiss niemand wirklich Genaueres über diesen
Menschen, der ungefragt zu den Leuten kam, manchmal etwas dabei hatte, das die
Frau dann kochen musste; niemand wagte es, diesen starken Wilden fortzujagen,
der von selbst wieder ging, wenn er genug bekam. Von den Bauern wurde er gerühmt
darin, wie gut er das Vieh versorgte; wenn er arbeitete, dann wie ein Muni, aber
manchmal eben auch nicht, manchmal galt es, einen Riesenrausch auszuschlafen.
Sogar ein früherer Polizeibeamter glaubt nicht, das der Bölere ein Krimineller
gewesen sei, "auch wenn er es nicht so genau genommen habe mit dem Gesetz".
Jedenfalls war der Bölere eine schillernde Figur, lebend in einer Zeit, die
sicher nicht einfach besser war als die heutige, aber so etwas hier in diesem
Land ermöglichte.
Es sei die Frage gestellt, ob ein Leben dieser Art in der zunehmenden Kontrolle
und Überwachung heutzutage überhaupt möglich wäre.
Copyright 1999/2005 Christian Frei